Flavio Briatore ist genial in dem, was er tut. Sagt Flavio Briatore. Selbstverständnis und Selbstbewusstsein sind bei dem Mann, der vor anderthalb Jahrzehnten mit Schimpf und Schande aus dem Fahrerlager der Formel 1 verjagt wurde, auch mit 74 Jahren offenbar völlig intakt. Seit dem Großen Preis von Spanien ist der Italiener nicht mehr nur als Relikt einer vergangenen Motorsport-Ära anzutreffen – offiziell nannte sich die Rolle Formula One Ambassador –, sondern ist als Berater des Alpine-Rennstalls in Amt und Würden. Vor allem im Amt, denn auf den Zusatz „aktiv“ vor dem Wort „Berater“ legt Renault-Boss Luca de Meo besonders wert. Der steckt hinter der Verzweiflungstat, die von Fachmedien mitunter als „Bankrotterklärung“ gewertet wird.
Für den Renault-Boss ist Platz neun nicht wirklich ein Erfolg
Der Manager der Franzosen hat genug vom Niedergang seiner einst ruhmreichen Equipe. Innerhalb von Jahresfrist hat er die komplette Führungsebene ausgetauscht, manch Top-Techniker hat auch freiwillig die Flucht ergriffen. Die Geschäfte führt der verlässliche Konzern-Statthalter Bruno Famin, und das gar nicht einmal so schlecht. Aber für de Meo ist es kein echter Erfolg, wie die Plätze neun und zehn in Barcelona belegen. Obwohl das gemessen an den bescheidenen Maßstäben seiner Sportwagentochter wirklich ein Riesenfortschritt ist.
Er will wie jeder Automobilhersteller ganz nach oben. Falls das unmöglich erscheint, braucht er jemand, der die Braut hübsch macht und mit Investoren verkuppelt. Also jemanden wie Briatore. Schließlich hatte der 2005 und 2006 für die bislang letzten Titel in Bleu gesorgt, indem er das System, mit dem er Benetton und Michael Schumacher vor der Jahrtausendwende zum Champion gemacht hatte, einfach mit dem Piloten Fernando Alonso und Renault kopierte. Diese Erfahrung, der Respekt davor und vielleicht auch ein wenig die Angst dienen Briatore dazu, ein dahin mäanderndes Werksteam neu zu motivieren.
Dass der Lebemann, der zwischendurch in Nachtklubs („Billionaire“) und Fußballklubs (Queens Park Rangers) investiert hatte, es ernst mit seinem Comeback meint, war nicht nur an den großen Gesten in der Startaufstellung von Barcelona abzulesen – dort gestikulierte er so raumgreifend, als gehörten ihm alle zwanzig Autos. Sondern Briatore schreckte am Tag nach dem zehnten WM-Lauf, also dem Beginn der ersten Arbeitswoche bei Alpine, das ganze Team auf – und zwar mit dem Ansinnen, sich die Dienste von Carlos Sainz junior für die kommende Saison zu sichern.
Mercedes-Ersatzmann Mick Schumacher machte Briatore brav seine Aufwartung
Der ambitionierte Mittelklassefahrer, der im Frühjahr den ersten Sieg einfuhr und Ferrari zugunsten von Lewis Hamilton verlassen muss, hatte lange mit Audi gepokert und auch zuletzt mit Williams, wo diese Woche sogar ein Vertragsabschluss in Aussicht gestellt worden war. Allein die Tatsache, dass Alpine plötzlich im Rennen um den 29-Jährigen ist, zeigt, wozu Briatore hinter den Kulissen fähig ist. In Katalonien hatte er die Köpfe mit Carlos Sainz senior zusammengesteckt, dem ehemaligen Rallye-Weltmeister. Schon war ein Plan entstanden, der zumindest den Marktwert des Juniors erhöht.
Aber vielleicht ist ein erfahrener Mann genau der richtige für die Weiterentwicklung des Teams. Der ungezogene Esteban Ocon muss gehen, der nicht minder komplizierte Landsmann Pierre Gasly will das Team wohl verlassen. Mercedes-Ersatzmann Mick Schumacher, der für Alpine Sportwagenrennen fährt, rechnet sich auch Chancen aus, bei Briatore könnte der Familiennamen sogar helfen. Brav machte er zusammen mit Freundin Laila Hasanovic in Barcelona seine Aufwartung, am Mittwoch kommender Woche testet er einen zwei Jahre alten Alpine-Rennwagen, zusammen mit dem australischen Nachwuchspiloten Jack Doohan.
Nach „Crashgate“ im Jahr 2008 galt Briatore im Motorsport als Persona non grata
Nachdem das „Crashgate“ von Singapur 2008 aufgeflogen war, wurden Briatore und Technikchef Pat Symonds von Renault entlassen. Das Sportgericht urteilte die beiden später als Drahtzieher des absichtlichen Unfalls von Nelson Piquet jr. ab, der Fernando Alonso beim Nacht-Grand-Prix zum Sieg verholfen hatte. Briatore bestreitet bis heute jede Mitwirkung, und vor zivilen Richtern hatte die lebenslange Sperre auch nicht lange bestand. Als Persona non grata galt er trotzdem im Motorsport. Zumindest, was die erste Reihe anging.
Die Geschicke von Fernando Alonso steuerte er indes weiterhin, und sein alter Kumpel Stefano Domenicali hob ihn im Rahmen der Neuerfindung der Formel 1 als Unterhaltungsmaschine in eine Botschafterrolle. So konnte er kürzlich in Monte Carlo durch die Boxengasse flanieren, als wäre er nie weg gewesen. Offiziell war er nur für eine Art Familientreffen beim Großen Preis von Monaco, mit der 30 Jahre jüngeren Gattin Elisabetta Gregoraci und seinem Sohn Nathan Falcon traf er eine ehemalige Lebensgefährtin, Heidi Klum, mit der er die Tochter Leni hat. Das ganz private Teammanagement, sicher auch nicht unkompliziert.
„Flavio sind Konventionen offensichtlich egal“, sagt der ehemalige Weltmeister Damon Hill
Nicht alle siedeln Briatore auf der Besser-Menschen-Skala weit oben an, es bleibt Sorge, dass der Ruf einer weltweit boomenden Doku-Serie durch die späte Rehabilitation leiden könnte. Während sich die Netflix-Dokumentare angesichts eines weiteren schillernden Hauptdarstellers die Hände reiben dürften, klagt der ehemalige Weltmeister Damon Hill vor den britischen Fernsehkameras an: Nicht alle sind begeistert über Briatores Comeback in der Formel 1. Es ist außergewöhnlich. „Ich kapiere es nicht. Und es erstaunt mich“, sagt Hill, der in den Neunzigern Schumachers und Briatores großer sportlicher Gegner war. „Flavio sind Konventionen und Regeln offensichtlich egal. Das bereitet mir Sorge. Wir wollten doch eigentlich nicht zurück in diese Zeit, wo Leichen im Keller liegen und Dinge passieren, die einen fahlen Beigeschmack haben.“ Alpine-Teamchef Bruno Famin hält dagegen: „Die Vergangenheit ist mir egal. Ich schaue in die Zukunft. Wie können wir unser Team besser machen?“
Wie groß die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bei der Alpine-Mutter Renault sein müssen, zeigt auch das Planspiel, künftig nicht mehr selbst Motoren zu bauen, sondern sie weit günstiger bei Mercedes oder Ferrari zu leasen. Auch das ist eher ein Indiz dafür, das ganze Team in naher Zukunft meistbietend zu verhökern. Schon jetzt gehört ein Viertel des Rennstalls Investoren aus Hollywood und Sportstars wie Alexander Zverev. Über Geld redet ein Flavio Briatore natürlich öffentlich nicht, lieber über die Motivation, die er verspricht: „Was ich zurückbringen werde, ist die Siegermentalität. Es sind immer die Menschen, die ein Team ausmachen. Die Technologie ist heute anders, aber den Unterschied machen die Menschen.“